"Triggerpunkte": Soziologe sieht Gesellschaft nicht gespalten | NDR.de - Kultur - Buch


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Der Soziologe behauptet: "Die Lagebeschreibung, wir befänden uns in einem großen Kulturkampf oder in einer gespaltenen Gesellschaft, die ist viel zu pauschal. Das heißt nicht, dass wir keine


Konflikte haben und dass wir uns nicht an vielen Dingen reiben. Aber dass sich feindliche Lager gegenüberstehen, das stimmt nicht."


Mau hat mit zwei Kollegen über Jahre die deutsche Gesellschaft in einer großen Studie erforscht. In ihrem Buch "Triggerpunkte" nehmen sie sich die vier Arenen vor, in denen gerade besonders


ausgeteilt wird: Ungleichheit, Migration, Diversität, und Klima. Ein Ergebnis: Das Klischee von der progressiven Akademikerin, vom eher rechten Arbeiter stimmt nicht. Außerdem: Die Deutschen


haben erstmal einen gewissen Konsens: Sie haben nicht per se ein Problem mit Migration. Die meisten machen sich Sorgen um die Klimakrise. Sie finden: Jeder soll selbst über seine sexuelle


Identität entscheiden, und sie halten Vermögen für ungleich verteilt. Und doch gibt es sie, die gefühlte Polarisierung. Ja, sagt Mau, aber die Mitte der Gesellschaft spielt dabei keine große


Rolle. "Die haben gar nicht mehr so starke politische Leidenschaften, sondern eher die gesellschaftlichen Ränder, die lauter werden", erklärt er. "Und wenn wir dann uns das so als


akustischen Raum vorstellen, ist die Mitte sozusagen geräuschmäßig ein Stück weit zurückgefahren und abgedimmt. Und die Ränder werden immer lauter. Und dann entsteht eben dieser Eindruck


einer sehr stark gespaltenen Öffentlichkeit oder Gesellschaft, weil eben bestimmte Sprecher-Positionen im gesellschaftlichen Raum letzten Endes überrepräsentiert sind."


Aber es gibt Momente, wo auch die wenig ideologische Mitte plötzlich emotional wird, nämlich wenn es um konkrete Fragen der politischen Umsetzung geht. Besonders sichtbar werde das an


Triggerworten, die stark umkämpft sind. Sowas wie: Gendersternchen, Hartz-IV-Empfänger, Transquoten, arabische Clans, Tempolimit, Lastenfahrräder. Diese Trigger lösen bei manchen extreme


Gefühle aus. Der Soziologe erklärt: "Die Leute reagieren stark darauf, das sieht man zum Beispiel bei der Frage der gendergerechten Sprache, wenn sie das Gefühl haben, sie können nicht mehr


individuell über Dinge entscheiden. Und die Frage der Sprache ist eben was sehr Persönliches. Da gibt es starke Gegenbewegungen in breiten gesellschaftlichen Kreisen, ob jetzt die Politik


oder ob Institutionen wirklich verändern sollten, wie wir sprechen."


Solche Reizthemen, solche Trigger, würden immer stärker von sogenannten "Polarisierungsunternehmern", vor allem in Politik und Medien, gesetzt werden. Um aus dem Streit politisches Kapital


zu schlagen. "Das heißt, man bringt ein Thema, von dem man weiß, dass sich Leute relativ schnell aufregen und zieht das in die Öffentlichkeit. Und dann entspinnen sich Auseinandersetzungen


darüber, und es gibt eine klare Teilung in Dafür- und Dagegen-Positionen. Und das ist so ein Versuch, die politische Landschaft ein Stück weit umzupflügen und Leute, die eigentlich politisch


ganz woanders beheimatet sind, auf die eigene Seite zu ziehen. Und wenn man das machen möchte, dann muss man solche Trigger-Themen eigentlich permanent bespielen", so Mau.


Er zeigt: Auch die etablierten Parteien lassen sich von diesen Taktiken mehr und mehr treiben, setzen zunehmend auf Affektpolitik, argumentieren spalterisch, um Wähler zu gewinnen. Ein


aktuelles Beispiel ist für ihn: Die Aussage von CDU-Chef Friedrich Merz, dass Geflüchtete den Deutschen die Zahnarzt-Termine wegnehmen würden. "Hier wird sozusagen eine Art von sozialer


Konkurrenz oder auch Sozialneid genutzt, wo ein Unbehagen und auch eine Unzufriedenheit mit der Situation im Gesundheitswesen verknüpft wird, mit der Frage der Migration, ist natürlich ein


idealer Trigger, weil der irgendwie so eine Grundhaltung von Leuten abruft und noch mal politisch verstärkt," führt Mau die Situation aus.


Arm versus Reich ist nach Maus Erkenntnissen in Deutschland kein großes Trigger-Thema. Denn: Gerade hierzulande habe sich der neoliberale Erfolgsmythos tief eingeprägt, dass jeder selbst für


sein Vorankommen verantwortlich ist. Die einfachen Arbeiter stellen den Reichtum ihrer Chefs also nicht infrage, sondern befürchten eher, dass die weiter unten zu viel kriegen, etwa


Bürgergeld-Empfänger, oder Geflüchtete.


Es sei nicht mehr der Kampf der Klassen, sondern der Wettbewerb der Individuen. Da würden in Gruppen, die sozial relativ dicht beieinanderstehen, also wo es keine großen sozialen Abstände


gäbe, plötzlich moralische Bewertungen aufgerufen zwischen gerechtfertigtem und nicht gerechtfertigtem Anspruch. Man kämpfe dann eher innerhalb einer Klasse, als dass es einen großen


Klassenkampf gäbe, erläutert Mau. Maus umfangreiche Studie zeigt: Man täte gut daran, die Rede von der "gespaltenen Gesellschaft" nicht ständig zu wiederholen und damit den


Polarisierungsunternehmern auf den Leim zu gehen - sonst nämlich droht sie tatsächlich zur Realität zu werden. Der Soziologe fasst abschließend zusammen: "Wenn wir alle denken, dass die


Gesellschaft gespalten ist, dann ordnen wir uns auch den Gruppen zu, die da offensichtlich irgendwie im Konflikt miteinander stehen. Das heißt: Wir überlegen bei jeder politischen Sachfrage:


Wo befindet sich das Lager, zu dem ich mich dazu zähle? Und diese Arten von Unterscheidung, also wenn man die im Kopf trifft, dann haben die natürlich reale Wirkung. Das heißt, eine


gefühlte Polarisierung kann zu einer realen Polarisierung werden. Und das ist natürlich auch eine Botschaft an die breite gesellschaftliche Mitte. Bringt Euch ein, macht mit, beteiligt euch


an der Demokratie, sonst übernehmen andere das Ruder."