Meinung: sascha lobo über kommunikation mit ungeimpften: gegenwut hilft nicht gegen omikron
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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Wie kann es sein, dass ich im Dezember 2021 lesen muss: »Deutschland hat zu
wenig Impfstoff bestellt« ? Halt, ich möchte keine Antwort. Stattdessen möchte ich eine Gefühlslage beschreiben, die mir in den letzten Wochen oft begegnet ist, die ich selbst auch ab und an
spüre: Flackerwut. Flackerwut ist die Gefühlsentsprechung einer sanft glimmenden Glut mit gelegentlichen Stichflammen. Im allgemeinen Umgang mit der Pandemie, speziell in Deutschland,
bringe ich inzwischen das emotionale Kunststück fertig, nichts mehr zu erwarten und trotzdem immer wieder enttäuscht zu sein. Solche Nachrichten wie die vom mangelnden Impfstoff bewirken
dann, dass ich für ein paar Minuten, manchmal auch nur Sekunden, komplett angezündet bin, bevor ich wieder vollständig in die pandemische Normalität zurückrutsche, in eine gewisse,
resignative Gemütskühle. Eine merkwürdige, aber irgendwie interessante Psychosituation, der ich versucht habe auf den Grund zu gehen. »Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust«, eines der
berühmtesten und deutschesten Zitate der Literaturklassik, und nach fast zwei Jahren Pandemie kann ich sagen – die eine wohnt, die andere wütet, sie flackerwütet. Meine Vernunftseele ist
größer, stärker und beständiger. Sie hat es mittlerweile geschafft, sich durch die verschiedenen Phasen von Erstaunen, Empörung, Hoffnung Ernüchterung, Neuerstaunen, Neuempörung,
Neuhoffnung, Neuernüchterung, Resignation und schließlich Akzeptanz zu arbeiten. Sie hat inzwischen ihren Frieden mit der Dauerpandemie gemacht, weil es auch gar nicht anders geht, wenn man
nicht durchdrehen möchte. Meine Impulsseele dagegen bricht immer mal wieder durch, zum Beispiel zum Anlass von besonders unverständlichen, besonders unverschämten, besonders irrwitzigen
Nachrichten oder Geschehnissen. Die Stiko, die Ständige Impfkommission, zum Beispiel ist für meine Impulsseele inzwischen ein verlässlicher Trigger. Neulich traf Stiko-Chef Mertens im
»heute-journal« auf Marietta Slomka, die Göttin des Interviewgemetzels. Sie zerlegte und entbeinte ihn fachgerecht anlässlich seiner unglaublich schädlichen Aussage, er würde seine Kinder
derzeit nicht impfen lassen. Das war zwar eine Genugtuung, weil die Entscheidungen und die Kommunikation der Stiko etwa mit der Taktung des Halley’schen Kometen daherkommen. Meine
Impulsseele aber flippte aus – wie kann es sein, dass nach zwei Jahren Pandemie die Stiko noch immer ein ehrenamtlich arbeitendes Gremium ist? Das sogar nach der Aussage des früheren
Gesundheitsministers für Notlagen einfach nicht ausgerichtet ist? Bei der Detailbetrachtung der Flackerwut stelle ich fest: Es handelt sich um den Prozess einer Aushandlung. Eigentlich
ringen meine beiden Seelen miteinander. Darum, was jetzt gesellschaftlich, sozial und politisch sinnvoll wäre und was jetzt für mich persönlich aus Gründen der Psychohygiene sein muss. Am
vielleicht deutlichsten merke ich das im Umgang mit impfskeptischen Menschen. Ein paar Mal schon habe ich mit (bisher) Ungeimpften aus unterschiedlichen Lagern diskutiert oder das zumindest
versucht. Dabei fallen regelmäßig Aussagen, bei denen meine Impulsseele sofort eskalieren und die Person schütteln will und sie anschreien und rufen, meine Güte, diesen absurden Bullshit
kannst du doch nicht ernsthaft glauben, du Atomknalltüte? Meine Vernunftseele weiß, das wäre extrem kontraproduktiv und hält die Impulsseele deshalb zurück. Die Diskussion gelingt mir
deshalb nicht immer, aber doch oft in versöhnlichem Ton. Aber die Flackerwut köchelt natürlich weiter, und irgendwann bricht die Impulsseele dann heraus. Zum Glück passiert das meistens,
wenn ich ins Smartphone schaue, das kurze Schreianfälle mit erfreulicher Gelassenheit hinnimmt. Die größte gesellschaftliche Aufgabe ist meiner Ansicht nach derzeit die Impfkampagne. Die
meisten ernst zu nehmenden Fachleute glauben, dass flächendeckende Impfungen der beste, vielleicht einzige nicht-katastrophale Weg aus der Pandemie sind. Doch die Kommunikation und die
Organisation zu den Impfungen war bisher suboptimal, um es mit einem Begriff meiner Vernunftseele zu bezeichnen. Und selbst wenn die staatliche Impfkommunikation demnächst besser gelingen
sollte, wird sie allein kaum bewirken können, so viele Menschen wie möglich von der Impfung samt Booster zu überzeugen. Denn wir leben im 21. Jahrhundert, der Ära der digitalen, sozialen
Vernetzung. Das bedeutet, jede Form von Wirkungskommunikation muss berücksichtigen, dass sich Menschen am besten durch andere, ihnen bekannte Menschen überzeugen lassen. Eine funktionierende
Impfkampagne muss den Leuten dort draußen ein Instrumentarium an die Hand geben, mit dem sie ihre Verwandten, Freunde, Nachbarn, Kollegen überzeugen können. Das aber wird nur ohne Druck und
ohne Verurteilung gelingen, kurz: ohne Wut. SCHREIEN SIE EINFACH MAL IHR SMARTPHONE AN Das wiederum lässt sich am besten bewerkstelligen, wenn man sich regelmäßig diese Stichflammen der Wut
an anderer Stelle erlaubt. Wenn der Druck des Anschreiens sich eben nicht gegenüber der seit Monaten zaudernden und zögernden Impfskeptikerin entlädt, obwohl sie über alle Informationen
verfügt oder verfügen könnte, sondern gegenüber dem Smartphone, das einem wieder einmal eigentlich Unerträgliches ins Bewusstsein spült. Dadurch kann man vielleicht die Ruhe und
Freundlichkeit erlangen, die im Dialog mit den bisher Zweifelnden notwendig sind. Das heißt nicht, dass wir den immer gefährlicher werdenden Gruppierungen der »Querdenker« und Impfgegner mit
Nachsicht und Freundlichkeit begegnen sollten. Meiner Ansicht nach muss eher das Gegenteil geschehen, damit nicht wieder der gleiche Fehler wie bei Pegida und der AfD geschieht und man
sich mit allzu viel Verständnis den Extremismus in Herzkammern der Demokratie reinholt. Aber verstehen heißt nicht Verständnis. Ein sehr entscheidender Punkt ist, mit welcher Grundstimmung
Politik, Medien und Gesellschaft der sich radikalisierenden Bewegung begegnen. Wenn die notwendige Härte nicht vernunftorientiert, ruhig und abgeklärt wirkt, sondern hitzig, überschäumend
und wütend, dann ergibt sich ein fatales Bild. Denn es geht in der Reaktion und der Kommunikation gegen »Querdenker« und Konsorten nicht mehr darum, den ohnehin rechtsextrem durchwirkten,
harten Kern zu erreichen. Stattdessen geht es darum, wie jener Teil des Publikums reagieren wird, der vielleicht eine gewisse pandemische Skepsis gegenüber dem Staat, den Maßnahmen, der
Wissenschaft mitbringt, aber noch nicht an das Querdenkertum verloren ist. Der schlimmste Eindruck, der bei diesen Leuten entstehen könnte: Dass hier Wut schlicht mit Gegenwut beantwortet
wird, denn das zieht in den Augen dieses Publikums Staat und Gesellschaft herunter auf die gleiche Ebene wie die »Querdenker«. »Ihr seid ja auch nicht besser als die«, wäre dann deren Tenor.
Das ist ausdrücklich weit entfernt von meiner Haltung, aber ich bin ja auch schon viermal geimpft (ja, wirklich) und daher nicht Zielgruppe. Stattdessen wäre die sinnvollste Reaktion eine
klar kommunizierte, meinetwegen auch durchaus harte, aber eben möglichst unemotionale, also erkennbar vernunftgetriebene. Denn ja, es gibt auch Ende 2021 noch Leute, die kritisch oder
skeptisch sind, die zweifeln, die sich sorgen, obwohl sie weder prinzipielle Impfgegner, noch »Querdenker« oder rechtsextrem sind. Die wahrscheinlich noch erreichbar sind, vielleicht sogar
für eine Impfkampagne. Aber genau diese Menschen beobachten sehr genau, wie insbesondere der Staat, die neue Bundesregierung vorgeht. Zum Beispiel in Sachen Impfpflicht. Deshalb ist es, so
ungerecht sich das anfühlen mag, eventuell sinnvoller, hier bei aller notwendigen, harten Klarheit immer wieder non-konfrontativ zu kommunizieren. »Wir werden uns viel verzeihen müssen«, so
lautet ein Jens-Spahn-Zitat. Es ist größer als sein Urheber.