Meinung: damals, in den siebzigern: ich bin ein wesen aus der eizeit


Meinung: damals, in den siebzigern: ich bin ein wesen aus der eizeit

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Abonnement lesen, weil er Ihnen geschenkt wurde. Versetzen Sie sich zurück in die Zeit, als Sie etwa zehn Jahre alt waren. Auf Ihrer Stereo-Kompaktanlage von Telefunken läuft das Debütalbum


von »The Alan Parsons Project«. Sie tragen einen samtweichen knallroten Nicki mit blau-gelben Blumen drauf und lesen nebenbei »Momo«. Ihre ältere Schwester hat gerade ein


Patschuli-Räucherstäbchen angezündet und Tee aufgesetzt. Der Bruder robbt mit seinen Freunden durch den Wald und spielt »Manöver«. Die Siebziger. Im Rückblick ein spießiges, geschmackloses,


materialistisches Jahrzehnt. Aber auch eine Zeit, in der man als behütetes Bürgerkind viel Spaß haben konnte. Wir bekamen nichts davon mit, dass Ulrike Meinhof erhängt in ihrer Zelle in


Stammheim gefunden wurde. Wir spielten auf der Straße Brennball, stromerten durch verlassene Häuser, warteten sehnsüchtig auf die nächste Folge »Raumschiff Enterprise«. Im Sommer fuhr die


Familie nach Italien, um sehr viele Nudeln zu essen und sich am Adriastrand Verbrennungen ersten Grades zu holen. Wir nahmen immer den Zug, und kaum hatten wir uns streitend, zeternd oder


schmollend auf die breiten, samtbezogenen Sitze fallen lassen, griff irgendjemand in die Tasche mit dem Proviant und zog _die Eierbox_ heraus. Eine praktische Transportschachtel für


Hartgekochte, die meine Mutter in der DDR erstanden hatte. Der untere Teil aus Plaste so blau wie ein FDJ-Hemd, der obere aus stark zerkratztem Plexiglas. In der Mitte der Clou: ein winziger


Salzstreuer. DAS VIEREINHALB-MINUTEN-EI Es gibt Menschen, die erinnern sich, wenn sie an die Siebziger denken, an ihr Bonanzarad oder den Geschmack von Brauner-Bär-Eis. An Petting auf


flauschigen Flokatis und Flaschendrehen. Wenn ich auf meine Kindheit zurückblicke, sehe ich diese banale Eierbox. Wie wir uns in der Bahn auf ihren Inhalt stürzen, genüsslich die Schale von


den Eiern abpellen und hineinbeißen, während langsam die Erkenntnis in uns sackt, dass wir auf dem Weg in den Süden sind, wo Abenteuer locken: der erste Kuss, Disco im Hotel, fremdländische


Rufe in den Straßen, das Meer, auf dem man schweben kann. Das Ei war damals irgendwie omnipräsent. So praktisch, so nahrhaft, fast unkaputtbar. Unser ganzer Haushalt wimmelte von


Gerätschaften, die sich ausschließlich dem Ovum widmeten. Dem Ovum concretum, um genau zu sein, dem Ei in seiner hart gekochten Form. Da gab es den Eischneider, auf dessen Saiten wir schräge


Lieder spielten wie auf einer antiken Winkelharfe. Den Eipikser und die Eieruhr – Luft raus, viereinhalb Minuten, bloß keinen Fehler machen. Und auf jeder Party tauchte verlässlich der


Porzellanteller mit den Einbuchtungen fürs Ei auf, das zuvor halbiert, entkernt und dann mit Kaviar gekrönt wurde. »Eine Hausfrau hat das im Gefühl« An dieser Stelle finden Sie einen


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einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung. Zur


Datenschutzerklärung Am meisten im Gedächtnis geblieben ist mir aber der Eiersollbruchstellenverursacher. Ein Instrument aus babyblauem Melamin mit zwei gezackten Klingen, die man mit


Zeigefinger und Daumen zusammenschob und damit in eine tödliche Guillotine verwandelte. Denn in dem Rund steckte der Kopf des unschuldigen Eies. Der pastellblaue Killer hatte noch eine


Schwester aus schnödem Blech, die wie eine Schere funktionierte und dem Ei mit einer Reihe haifischartiger Zähne zu Leibe rückte – um das Haupt dann quasi abzureißen. Kochen, spalten,


köpfen, reißen – im Rückblick liest sich die kleine Eierkunde der Siebziger wie eine Folteranleitung. Ein Wunder, dass wir armen Kinder nicht traumatisiert wurden. Aber wir haben das


bestimmt verdrängt, abgespalten sozusagen. So wie die grimmschen Märchen, da rollen ja auch die Köpfe. Zu archaisch, erklärte mir neulich ein Erzieher, das kann man den Kindern von heute


nicht mehr zumuten. Das Frühstücksei, das ist die traurige Wahrheit, ist ja nichts weiter als ein verhindertes Küken. Dennoch erfreut es sich trotz Vegan-Boom erstaunlicher Beliebtheit: Im


Jahr 2020 lag der Pro-Kopf-Konsum von Eiern in Deutschland  bei 239, Tendenz steigend. Im Jahr 1976, als ich zehn war, brachte es jeder Bundesbürger sogar auf 290 Stück . Fast 300


Exekutionen in einem Jahr, mal 61,6 Millionen – das macht knapp 18,5 Milliarden. Was für eine Splattergeschichte! Mein Mann ist davon überzeugt, dass die Art des Eierköpfens viel über den


Esser aussagt. Die gequälte Säbelei, der Versuch, den Kopf des Eies wie beim Holzsägen zu durchtrennen, sei Zeichen für einen gewissen unbeholfenen Sadismus, meint er. In der Jugend erlebt


man vieles zum ersten Mal: den ersten Kuss, die erste Reise ohne Eltern. Wenn man die Marke 50 streift, geschieht auch viel Neues: die ersten Hitzewallungen, das erste künstliche Gelenk. Und


einiges sieht man plötzlich anders. Warum früher trotzdem nicht alles besser war, davon erzählen an dieser Stelle unsere vier Kolumnistinnen und Kolumnisten im Wechsel. Alle Kolumnen finden


Sie hier. Mein Mann kennt sich aus mit Eiern. Sein Vater besaß etwas, das man in den Siebzigern als Hühner-KZ bezeichnete. Er hatte einen Stall, in dem auf sehr engem Raum viele Hühner sehr


viele Eier legten. Sie wurden mit Möhren und Fischmehl gefüttert, damit das Dotter eine schöne Farbe bekam. Der Hühnerstall roch nicht gut. Aber er führte zu bescheidenem Wohlstand. In der


Kindheit meines Mannes gab es Eier in jedem nur denkbaren Aggregatzustand: als Omelett oder Rührei, im Glas, im Pfannkuchen, auf den Bratkartoffeln. Die totale Eierei. Mir scheint, der


Umgang mit diesem Nahrungsmittel sagt einiges aus über die Generationen und ihre Art zu leben. Meine Tochter hat an ihrem vierten Geburtstag einen legendären Auftritt beim Eierlauf


hingelegt: Während ihre Gäste hoch konzentriert mit dem Löffel in der Hand auf die Ziellinie zuwackelten, blieb sie seelenruhig am Start stehen, pellte ihr Ei und schob es sich in den Mund.


Genuss ging ihr vor Wettkampf. Heute ist sie vegan, giert aber periodisch immer noch nach Eiern. Dann gönnt sie sich eins und fühlt sich hinterher schuldig. Mein Vater, Kriegsgeneration, aß


Eier, wenn er Lust darauf hatte. Er war ein strikter Vertreter des kurzen und schmerzlosen Köpfens. Er verschmähte sämtliche Eiergerätschaften, griff zum Messer, zielte und machte dem armen


Ei mit einem beherzten horizontalen Schlag den Garaus.