Abi in Taiwan: Wer feiert, ist ein Rebell - DER SPIEGEL


Abi in Taiwan: Wer feiert, ist ein Rebell - DER SPIEGEL

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Letzte Woche hat Wei Lin ihren Schulabschluss geschafft. Jetzt sitzt sie schon wieder in der Bibliothek und lernt. Sie liest in einem dicken Geschichtswälzer, ihr Blick ist so konzentriert


auf die Buchstaben gerichtet, dass es scheint, sie könne aufsaugen, was da steht.


Wei Lin lernt, bis sie nicht mehr kann. Nur manchmal, wenn ihre blutunterlaufenen Augen zu häufig zwinkern und sich der Oberkörper bedrohlich der Tischoberfläche nähert, gibt sie nach. Dann


gönnt sie sich ein kleines Nickerchen.


Wei Lin sitzt hier von Montags bis Sonntags, von morgens bis abends. Eigentlich könnte sie sich über das freuen, was sie erreicht hat - und sich Gedanken über den Abi-Ball oder den


Abi-Streich machen. Aber so etwas gibt es nicht in Taiwan, dafür ist keine Zeit. Wei Lin muss durchstarten, sie hat ein festes Ziel vor Augen: die Universität. Nicht irgendeine, sondern die


beste, die das kleine Taiwan zu bieten hat.


Diese Idee haben allerdings auch alle anderen Schüler, die gerade ihren Schulabschluss in der Tasche haben. Fast jeder will einen der heiß umkämpften Studienplätze in der Hauptstadt Taipeh,


an der Nationalen Universität Taiwans (NTU). Wer hier seinen Abschluss macht, hat die bestmögliche Ausgangsposition fürs Berufsleben. Um auf die Uni zu kommen, muss Wei Lin den Ji Kao


bestehen, einen berüchtigten Aufnahmetest.


Das Problem: Nur ein bis zwei Monate liegen zwischen Schulabschluss und dem Uni-Test. Das ist so wenig Vorbereitungszeit, dass die Jugendlichen bereits in der Schule mit dem Lernen für ihre


Uni-Aufnahmeprüfungen beginnen müssen – parallel zu ihren regulären Abschlussklausuren.


"Es ist ja nicht so, dass wir das Ende unserer Schullaufbahn nicht gerne richtig feiern würden", sagt Yao, mittlerweile Student an der National Chengchi University (NCCU) in Taipeh. "Uns


bleibt einfach keine Zeit dafür, schließlich möchte jeder auf eine gute Universität." Die Schule verabschiedet ihre Absolventen mit einer formellen Abschussfeier, es gibt eine kurze Laudatio


des Schulleiters. Danach tauschen die Schüler noch mal ihre Messenger-Adressen aus - und das war es. Die Schule ist vorbei - willkommen beim Weiterpauken.


Student Yao hat dagegen ein wenig rebelliert: Er mietete nach dem Abschluss mit ein paar Freunden einen Kleinbus und fuhr ein paar Tage in Taiwan herum. Der Inselstaat ist etwa so groß wie


Baden-Württemberg. Der Mini-Urlaub macht Yao aber schon zu einem Sonderling gegenüber seinen Mitschülern.


Wei Lin hat sich so etwas nicht getraut. Sie hat gelernt, den Test geschrieben und schließlich gewartet. Zwei Wochen hat sie gebangt, gehofft und ein Räucherstäbchen nach dem anderen im


Familienschrein angezündet wurde. Dann kam der Brief mit den Ergebnissen der Aufnahmeprüfungen. Wei Lin hatte bestanden, eine Immatrikulationsbescheinigung der NCCU in Taipeh war gleich


dabei.


Feiert sie jetzt wenigstens eine wilde Party? Oder leiht sich den Bus von Yao aus, um ein wenig auf der Insel herum zu fahren? Erst einmal, sagt sie, geht sie ins Bett. Und zwar für die


nächsten zwei Tage.