"lost films": web-fundgrube voll verschollener schätze
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------------------------- * * X.com * Facebook * E-Mail * * * X.com * Facebook * E-Mail * Messenger * WhatsApp * Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig? Damit
hatte wohl keiner mehr ernsthaft gerechnet. Fritz Langs "Metropolis" war als unvollständiges Werk in die Filmgeschichte eingegangen, eine halbe Stunde Material, so schätzte man,
war auf Nimmerwiedersehen verschollen. Rausgekürzt gleich nach der Premiere 1927, 150 Minuten seien zu lang, hieß es damals. Und dann das: In einem kleinen unbekannten Filmmuseum in Buenos
Aires tauchten im Sommer 2008 Teile dieser vermissten Szenen auf. Ein Jahrhundertfund. "Ein historischer Moment", "sensationell", "Ich werde nicht mehr schlafen, bis
ich das Material gesehen habe", die Stummfilmexperten überschlugen sich vor Aufregung. Acht Jahrzehnte, so lange muss es in Zukunft nicht mehr dauern, bis scheinbar verschwundene
Stummfilme wieder der Öffentlichkeit zugänglich werden. Dank "Lost Films" , einem Internetprojekt, das dabei helfen könnte. Die Seite, seit einem Jahr online, ist eine Idee der
Deutschen Kinemathek in Berlin und will nichts weniger als einen verborgenen Schatz heben: "80 Prozent aller Stummfilme sind verschollen", sagt Jürgen Keiper, der Initiator des
Projekts. "Was wir heute aus dieser Zeit kennen, entspricht wirklich nur dem Blick durch einen Türspalt." Listen mit Filmen, die ganz oder teilweise als verloren gelten, finden
sich hier genauso wie Stummfilmfragmente, deren Ursprung unbekannt ist. Verschwundenes finden und Vorhandenes identifizieren, auf diese beiden Aspekte konzentriert sich "Lost
Films". Filmwissenschaftler aus aller Welt tragen die Indizien online zusammen, können sehen, was Kollegen bereits herausgefunden haben. Und es funktioniert: Ganze 48 Stummfilme wurden
mittlerweile als "found" markiert, auch 24 Fragmente sind identifiziert und rangieren wieder unter ihrem Originalnamen, sei es "Das Rätsel von Bangalore" oder "A
Salty Sap". Fotostrecke Lost Films: Historische Schnipsel Foto: Deutsche Kinemathek Das Projekt repräsentiert einen neuen Typus von Archiv. Es ist eine neue Interpretation des
statischen Konzepts, alles in Regalen an einem Ort zu lagern, wo nur ab und zu jemand vorbeikommt und die Staubschichten wegpustet. Das dynamische Prinzip von "Lost Films",
Material zu archivieren, wurde anfangs misstrauisch betrachtet. Ein Mentalitätsproblem: Die Open-Source-Ideologie ist dem klassischen Archivar erst einmal fremd, ist er doch darauf bedacht,
zu schützen, was er verwaltet. "Natürlich reagierten viele erst einmal skeptisch auf die Bitte, alles offenzulegen", so Keiper. "Aber unser Argument überzeugte dann fast alle:
Am Ende kann jeder nur davon profitieren" - alle Stummfilmexperten wollen wissen, was aus den verschwundenen Werken wurde. Das Unterfangen versteht sich als von Grund auf kollaborativ;
die geposteten Kommentare der Experten von Stiftungen und Museen in Prag, Paris, Japan, Südamerika oder den USA, die Dokumente, die sie hochladen, sind das Kapital des Online-Archivs. Damit
dieser internationale Ansatz funktioniert, ist die Seite konsequent auf Englisch. Und die Sorge um die Bildrechte entkräftete man mit dem Label Creative Commons. Um herauszufinden, was
überhaupt als verschollen gilt, bat man Kuratoren, Archivare, Experten der Stummfilmszene um ihre Listen, 400 Titel waren es am Ende. Aber so richtig ins Rollen kam das Ganze, als die
"Lost Films"-Macher die Daten in ein Wiki einspeisten - den Vorgänger der jetzigen Seite. Das Vorhaben sprach sich in der Community herum. "Wir wollten die Hemmschwelle
niedrig halten", so Keiper, wohl wissend, wie schwer sich Wissenschaftler tun, nur auf Verdacht, ohne konkreten Beleg, Filmschnipsel zu kommentieren. Schnell entpuppte sich bei
"Lost Films" die Identifizierung von anonymem Material als zweites großes Thema. Online lassen sich nun Filmsequenzen anschauen, in einzelne Frames zoomen, aber auch Scans der
Zelluloidstücke selbst sind hochgeladen. Alles hilft bei der Indiziensuche: Seien es die Kostüme der Darsteller oder Hintergrundszenen, die Form der Perforation, am Rand aufgedruckte Namen
der Produktionsfirmen oder die Originalkoloration der einzelnen Bilder. Derzeit hält der Filmwissenschaftler Oliver Hanley das Projekt in Gang. Er plant für 2010 einen Relaunch, will die
Seite etwa um einen Katalog mit restaurierten Fassungen erweitern. PRIVATFILME UND FOTOS DOKUMENTIEREN DIE DDR Weil die Idee vom dynamischen, öffentlichen Archiv so vielversprechend ist,
haben die Initiatoren von der Deutschen Kinemathek das Prinzip schon für andere Ideen genutzt. So startete etwa zum 20. Jubiläum des Mauerfalls die Seite "Wir waren so frei" :
Privatfilme und Fotos aus jenen Tagen sammeln sich hier, jeder kann seine Super8-Streifen einstellen, digitalisierte Dias, das junge Pärchen am Brandenburger Tor, Fahrten über die bayerische
DDR-Grenze - alles obendrein verortet auf einer Google-Map. Zusammen mit der Bundeszentrale für politische Bildung will man mittels Material aus Privatarchiven einen "anderen Blick auf
die historischen Ereignisse und deren Auswirkungen auf den Alltag in Ost und West" bieten. Nun soll die Mammutdokumentation "24h Berlin", die der Kultursender
"arte" im September 2009 zeigte, in ähnlicher Weise archiviert werden. Die Kinemathek beginnt in diesem Jahr, das Rohmaterial des Films, also alle 700 Stunden aus dem Berliner
Alltag, zu katalogisieren - und sukzessive online zu stellen. Auch wenn die verschollenen Szenen aus "Metropolis" nicht von "Lost Films" entdeckt wurden, zeigt der Hype
um die Fragmente, wie sinnvoll es ist, in einem solchen Online-Archiv die Expertisen weltweit zu bündeln. Übrigens: Ab Januar zeigt die Deutsche Kinemathek in Berlin den ergänzten
Fritz-Lang-Klassiker in einer eigenen Ausstellung .