Meinung: corona, mündige bürger und die politik: kontrolle ist gut, vertrauen ist besser
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Sie sich in den Zug gesetzt haben, haben Sie sich testen lassen und wussten, dass bei Ihnen kein Coronavirus nachgewiesen wurde? Sie saßen allein in der Reihe und werden das auch auf dem
Rückweg tun, Sie werden wieder eine Maske tragen, Sie tun also alles, um niemanden zu gefährden? Gut so. Aber was ist mit den anderen im Großraumwagen? Vertrauen Sie darauf, dass die genauso
umsichtig und erwachsen handeln wie Sie? Dass sie die Maske ununterbrochen tragen, dass sie sich ebenfalls haben testen lassen, dass sie nicht ansteckend sind? Und vertrauen die
Mitreisenden Ihnen? Darauf vertrauen, dass die anderen das Richtige tun: Die Bundeskanzlerin hat inständig darum gebeten, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr und der Wissenschaft vertrauen
und deshalb die Regeln des Shutdowns beachten, um die Corona-Pandemie einzudämmen. Wie aber entsteht gegenseitiges Vertrauen? Was sind die individuellen und die gesellschaftlichen
Voraussetzungen dafür? Der deutsch-amerikanische Psychoanalytiker Erik Erikson hat in den Fünfzigerjahren als einer der ersten die elementare Bedeutung des Vertrauens für die Entwicklung
einer reifen Persönlichkeit erkannt. Der Grundstein dafür wird bereits in den ersten Lebensjahren gelegt, wenn sich beim Kleinkind ein Gefühl des Urvertrauens in die Zuverlässigkeit und die
Liebe der zentralen Beziehungspersonen entwickelt. Nur wenn ich erlebe, dass ich anderen vertrauen kann und dass andere Vertrauen in mich setzen, entwickelt sich bei mir Selbstvertrauen und
Weltvertrauen. Das Ur- oder Weltvertrauen ist eine psychosoziale Ressource, auf die das Individuum, aber auch soziale Gemeinschaften in Krisenzeiten zurückgreifen können. Der Soziologe
Niklas Luhmann hat mit dem nüchternen Blick der Systemtheorie die besondere gesellschaftliche Leistung des Vertrauens herausgearbeitet, indem er es als »Mechanismus zur Reduktion von
Komplexität« charakterisiert hat. Aus dieser allerdings instrumentalistisch verkürzten Sicht ist es ökonomischer, auf das Handeln von anderen Einfluss zu nehmen, indem man ihnen Vertrauen
schenkt, als sie mit aufwendigen Maßnahmen zu kontrollieren. Das ist das genaue Gegenteil des Spruchs »Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«. Nur wer andere mit der Vertretung eigener
Interessen und Bedürfnisse betraut, kann die Zahl und Komplexität der anstehenden Aufgaben weit über das Maß hinaus steigern, das er aus eigener Kraft bewerkstelligen könnte. Nach dieser
Logik ist die Bundesregierung insbesondere in der ersten Phase der Pandemiebekämpfung im Frühjahr verfahren. Sie hat stärker auf Empfehlungen und Appelle gesetzt als auf Verbote und
Kontrolle. Die Regierung hat das Vertrauen in die Bevölkerung gesetzt, dass diese die Notwendigkeit der verschiedenen Maßnahmen akzeptiert und aus freien Stücken befolgt. Das hat relativ gut
funktioniert, auch weil die Menschen ihrerseits großes Vertrauen in die Kompetenz der Regierung und insbesondere in die Führungskompetenz von Angela Merkel hatten. Vertrauen ist ein sich
wechselseitig verstärkender Prozess. Auf Vertrauen basiertes politisches Handeln wird jedoch infrage gestellt, wenn es zu oft enttäuscht wird, wenn die Entscheidungen der Regierung
Transparenz vermissen lassen und wenn die Wahrhaftigkeit der regierungsamtlichen Stellungnahmen unglaubwürdig wird. Dann macht sich Misstrauen breit – was nicht grundsätzlich negativ zu
bewerten ist: Ein gewisses Maß an Misstrauen erfüllt als Gegengewicht zur allzu naiven Vertrauensseligkeit eine kritische Funktion. Misstrauen kann sich jedoch zu einer habituell
eingenommenen Grundhaltung verfestigen, die durch Urmisstrauen und den Verlust des Weltvertrauens gekennzeichnet ist. Die Bewegung der »Querdenker« im Verein mit rechtsradikalen
Gruppierungen versucht systematisch, grundlegendes Misstrauen zu säen gegen alle Informationen, Einschätzungen und Maßnahmen, die von etablierten Gruppen, der Wissenschaft oder der Regierung
stammen. Sie beziehen ihr Selbstvertrauen aus einem zur fanatischen Ideologie übersteigerten Misstrauen. Im Glaubenssystem der Verschwörungstheorie manifestiert sich ihr paranoid
aufgeladener Weltbezug, der überall böse Verfolger wittert. Wer Vertrauen schenkt, geht immer das Risiko ein, verletzt zu werden, wie der Philosoph Martin Hartmann in seinem Buch »Praxis des
Vertrauens« ausführt. Wer hingegen Misstrauen zur Lebensmaxime erhebt, will Verletzbarkeit unter allen Umständen vermeiden. Eine solche Haltung ist gerade in der Coronakrise besonders
gefährlich, weil zu ihrer Bewältigung ein gesteigertes Maß an Sensibilität für die menschliche Verletzlichkeit notwendig ist. Weil weder das Virus noch die von der Krankheit befallenen
Patienten wirklich sichtbar werden und nur in statistischen Zahlen aufscheinen, ist die Gefahr sinnlich nicht erfahrbar. Die Intransparenz und Inkonsistenz mancher staatlichen Entscheidungen
und die Untätigkeit der Schulbehörden in den Sommermonaten haben das Vertrauen der Bevölkerung in die Regierung geschwächt. Aber noch ist es nicht erodiert. Der momentane Corona-Kurs der
Regierung basiert immer noch auf wechselseitigem Vertrauen, ist aber durch strikte Regeln, Verbote und deren Kontrolle ergänzt. Die verschärften staatlichen Maßnahmen und Eingriffe in die
Freiheitsrechte der Bürger werden von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung begrüßt, ein nicht unerheblicher Anteil wünscht sich sogar noch weitergehende Einschränkungen. Nur ein Anteil
von rund 15 Prozent der Bevölkerung lehnt die Maßnahmen als übertrieben ab. Man könnte also behaupten, momentan habe die Bevölkerung mehr Vertrauen in die Regierung als umgekehrt. Aber wie
lange noch? Auf Dauer dürfte dieses Ungleichgewicht nicht stabil sein. Ein neues Gleichgewicht dürfte sich in der nächsten Etappe im Kampf mit der Pandemie einspielen. Da die Regierung eine
Impfpflicht kategorisch ausgeschlossen hat, wird es hier vollständig darauf ankommen, dass man ihr Vertrauen entgegenbringt. Hier kommt eine besondere Form des Vertrauens ins Spiel, die als
»epistemisches Vertrauen« bezeichnet wird. Epistemisch bedeutet »das Wissen, die Erkenntnis betreffend« – epistemisches Vertrauen bezieht sich also darauf, ob ich einer anderen Person
vertraue, dass sie mir Zusammenhänge korrekt erklärt, dass sie die Dinge beim richtigen Namen nennt. Der Londoner Psychoanalytiker Peter Fonagy und sein Team haben sich damit beschäftigt,
wie Kinder epistemisches Vertrauen erwerben und so die Fähigkeit entwickeln, sich realitätsgerecht in der Welt zu orientieren. Kinder verfügen über die Bereitschaft, soziales Wissen von
besser informierten Bindungspersonen aufzunehmen. So profitieren sie von dem komplexen Gebäude menschlichen Wissens, das ihre Kultur zur Verfügung stellt. Kinder sind aber keineswegs wahllos
leichtgläubig. Vielmehr registrieren sie, wenn ein Erwachsener zu falschen Behauptungen und unglaubwürdigen Erklärungen greift. Sie betrachten seine Behauptungen über die Welt daraufhin mit
Skepsis. Sie entwickeln epistemische Wachsamkeit, man könnte auch sagen, epistemisches Misstrauen als Schutz vor Fehlinformationen. Diese Haltung behalten sie als Erwachsene bei. Was heißt
das für die Politik? Wenn Ministerpräsidenten, Kultusministerinnen und Senatoren behaupten, Kinder seien nicht oder wenig ansteckend, ohne dass es dafür entsprechende Forschungsergebnisse
gibt, und dann doch die Schulen und Kitas schließen – dann führt das zu genau diesem epistemischen Misstrauen. Und dieses wiederum beschädigt das Vertrauen, dass die Maßnahmen angemessen
sind. Wer mündige Bürger möchte, muss sie auch als solche behandeln. Fatal wäre, wenn dieses Misstrauen zu einer generellen Ablehnung der Corona-Maßnahmen führen würde, insbesondere der
Impfkampagne. Die Erfindung der Impfungen ist ein Erfolg, der in der Geschichte der Menschheit tatsächlich einen besonderen Platz verdient. Bei aller berechtigten Skepsis gegenüber den
unbeabsichtigten Nebenwirkungen der hochtechnifizierten Medizin ist gerade das Impfen eine Maßnahme, die man als Segen bezeichnen muss. Die Impfstoffe haben uns von Seuchen befreit, die für
frühere Generationen eine »Geißel der Menschheit« waren. Schon diese kollektive historische Erfahrung sollte uns dazu bringen, jetzt auf die weltweiten Corona-Impfungen zu vertrauen.